Der letzte Kuss

Wenn ich ehrlich sein soll, dann habe ich eine Abneigung gegen Menschen, die an übersinnliche Phänomene glauben. Ich glaube, es sind viel mehr Phänomene, die wir spüren, wahrnehmen, aber nur am Rande des Bewusstseins. Menchmal streift uns etwas, was wir nicht erklären können.

Ich habe letzte Nacht, wie ich vermute, das letzte Mal von Dir geträumt. Mein brauner, wunderbarer Begleiter. Wir haben uns Leben ein letztes Mal Revue passieren lassen, die letzten elf wunderbaren, schwierigen, schönen, anstrengende Jahre.
Wir sind noch einmal unseren Weg gegangen, das erste Mal, als ich dich auf dem Bauernhof besucht habe. Du warst der dickste, gefrässigste und faulste deiner neun Geschwister. Wenn ich ehrlich sein soll, vermutlich war das deine Lebenseinstellung ein ganzes Leben lang. Aber dafür habe ich dich geliebt. Als wir dich abgeholt haben hätte ich so gern deine hellere Schwester mitgenommen, sie war so viel lebendiger als du es warst.

Der erste Spaziergang auf Sylt, alle Menschen wollten dich streicheln. Aufmerksamkeit hast du vom ersten Augenblick an geliebt, du wolltest immer allen Menschen gefallen. So klein und so verletzlich warst du damals. Aber das warst du nicht lange.

Dein Leben lang, warst du mein starke Schulter, mein Beschützer, mein Ein und Alles. Es gibt so viele Situationen, in denen du so wichtig für mich warst. Du warst mein Tagebuch, meine Handtasche mit den kleinen und grossen Dingen darin, die ein Mädchen mit sich trägt. Du hast meine erste grosse Liebe erlebt, du warst an meiner Seite, als diese erste wunderbare grosse Liebe auseinander ging. Was ich nicht verstanden habe, du warst eigentlich meine erste grosse Liebe, meine erste grosse Hundeliebe. Du wirst immer einen unglaublich grossen Platz in meinem Herzen reserviert haben, aber ich weiss auch, dass du diesen Platz gerne mit dem kleinen Wusel an meiner Seite teilst. Deine braunen Augen schauen jeden Tag prüfend auf die Kleine herab. Vielleicht flüsterst du ihr zwischendrin Tipps zu? Schliesslich warst du ein Meister der Menschenmanipulation, es gab wenig Menschen, die deinem Charme widerstehen konnten.

Aber für meinen Teil habe ich manchmal auch meine liebe Mühe mit die gehabt, du konntest so furchtbar stur sein, manchmal zu stur. Aber ich habe viel gelernt, Lotte findet das heute nicht so ideal, denn es gibt wenig Hundetricks, die ich nicht an dir gelernt hätte.
Wenn ich heute, meist abends wenn es kalt und dunkel ist, mit Lotte draussen bin, dass denke ich an dich, du hast die stillen Winternächte geliebt, durch den Schnee toben, auch wenn die Knochen schon wehtaten, Schneemänner zerstören und die Rübennasen auffressen, auch das haben wir ein letztes Mal heute Nacht miteinander gemacht. Vielleicht erzählst du es Lotte irgendwann einmal.

Wir waren ein letzes Mal schwimmen, du warst immer ein Schisshase und bist nie allein weit rausgeschwommen, aber wir waren ein echtes Schwimmerteam. Unzählige Tennisbälle, Flaschen, Schwimmspielzeuge haben wir aus Tümpeln, Meeren, Flüssen und Seen wieder herausgefischt, im Sommer war uns nie etwas zu kalt. Einmal reinspringen und durchschwimmen war immer drin. Ich hab dich ein letztes Mal aus deinen geliebten Dreckpfützen gezogen, Vollgas hinein, damit aus der kleinsten Pfütze auch noch der grösstmögliche Dreck resultierte. Du warst manchmal ein echtes Schwein, das hast du Lotte nicht erzählt, schömst du dich etwa dafür? Sie mag (noch) keine Dreckpfützen, aber ich weiss, du wirst es ändern.

Ein letztes Mal unser letzter Gang, cih werde nie vergessen, dass du mich in der Klinik nicht mehr anschauen konntest, weil du wusstest, dass du mich allein lassen würdest. Du hast mir bis zum Schluss nicht zeigen wollen, dass es dir einfach nicht gut ging, dass du nicht mehr konntest, aber doch noch so viel wolltest. Ich weiss, dass du dein Küken nicht allein lassen wolltest. Du hast bis zu dem Punkt, an dem du wusstest, dass ich mein Leben endlich in die richtige Bahn lenke an meiner Seite gestanden. Du hast alles, bis zum Schluss mitgemacht, du warst dabei. Und ich weiss heute, dass es dir manchmal sicherlich nicht leicht gefallen ist. Manchmal frage ich mich, warum mir nicht früher ein kleines Zeichen gegeben hast. Du warst einfach mein stolzer Krieger, mein Hasenfuss, mein Herz. Und dann konntest du mich nicht mehr ansehen, vor lauter Scham.

Ich habe dich bis zum Schluss nicht allein gelassen, für einen Augenblick in unserer besonderen Beziehung habe ich dich an die Hand genommen und dir den Weg gezeigt, ich war bei dir, als du deinen letzten Atemzug ausgehaucht hast, bis zum Schluss hast du in unserer Lieblingskuschelposition gelegen und ich habe dir von unserem letzen Mal Schwimmen erzählt. Ich hoffe, du magst den Platz, zu dem ich mit dir geschwommen bin. Aber ich denke schon, schliesslich haben wir dort unseren letzten Stock gefischt.

Ich liebe dich dafür, dass mich dein Bewusstsein letzte Nacht noch einmal berührt hat (zumindestens möchte ich mir das gern einbilden). Und obwohl du Lotte nie kennengelernt hast (du würdest sie furchtbar mühsam finden, sie redet die ganze Zeit und hüpft herum und will spielen...) hast du mir gesagt, dass dein Platz in meinem Herzen schrumpfen muss, damit sie ihren rechtmässigen Platz jetzt einnehmen kann. Ich lasse dich ziehen, ich weiss du wirst wiederkommen und mich an unsere wunderbare, schwierige, schöne Zeit erinnern.




Ewig Dein. Ewig Mein. Ewig Uns.